Freitag, 4. Dezember 2009
Rück- oder Fortschritt?
Lange habe ich mich nicht mehr zum Schreiben hingesetzt, fünf Monate um genau zu sein. Bin ich in der Zwischenzeit genesen? Nein. Nehme ich Hilfe an? Nein. Ist überhaupt etwas vorwärts gegangen? Ich bin mir nicht sicher.

Ich habe im Sommer meine Inventur fertig geschrieben und sie, dem OA-Programm folgend, jemandem anvertraut von dem ich weiß, ich kann mich auf sie verlassen. Es war gut, meine Knackpunkte zu erkennen und besser zu verstehen, warum ich manche Dinge tue. Es war auch gut, zu merken, dass ich auch wenn ich mich in meiner Gesamtheit jemandem offenbare immer noch geschätzt und gemocht werde. Es war also gut, diese Inventur zu schreiben und der Erkenntnisse wegen kann man es als Fortschritt betrachten.
Dann jedoch habe ich mehr oder weniger aufgehört, im Programm weiter zu arbeiten. Das Konzept sieht vor, jeden Tag etwas dafür zu tun, nicht in die Sucht abzurutschen: Ein anderes OA-Mitglied anrufen (oder mehrere), in der programmeigenen Literatur lesen, die eigenen Gedanken und Gefühle zu Papier bringen um sich in Ruhe zu überlegen, was man mit ihnen anfangen will. Außerdem ist es sinnig, über den Tag verteilt häufiger Rücksprache mit der höheren Macht zu halten um nicht reflexartig einfach jeder Herausforderung mit Süßigkeiten zu begegnen. All das habe ich getan, aber immer nur als Notfallmaßnahme wenn ich bereits abgerutscht war und nicht auf einer regelmäßigen (geschweige denn täglichen) Basis. Ganz offensichtlich sehe ich nicht die Notwendigkeit, einer Arbeit die mir Genesung verschaffen kann sonderlich viel Zeit zu widmen. Überhaupt mangelt es mir an der Bereitschaft, ernsthaft die 12 Schritte abzuarbeiten. Das Grundlagenbuch der anonymen Alkoholiker (auf dessen Basis die anonymen Ess-Süchtigen arbeiten) spricht immer wieder davon, dass man bereit sein muss "alles Erdenkliche zu tun, um zu genesen" und dass man bei Leuten, denen dieser absolute Wille zum Umdenken fehlt seine Zeit verschwendet. Als so ein Fall fühle ich mich.
Natürlich, die Ess-Sucht ist mir lästig, ich würde gern ohne sie leben. Aber dass ich deshalb bereit wäre, mein Leben umzukrempeln? Ach, woher. Ich will gern weiter den Ton angeben und die dinge tun, wie ich sie für richtig halte. Trotz der Tatsache, dass mich exakt diese Lebensführung zur Sucht geführt hat und dass sie mich psychisch und körperlich stark in Mitleidenschaft zieht, glaube ich noch immer, dass ich selbst am Besten weiß, was gut für mich ist. Und ich frage mich noch, ob ich wirklich nen Hau habe... Es scheint, dass ich tatsächlich noch nicht an dem persönlichen Tiefpunkt angekommen bin dessen Erreichen bewirkt, dass ich keinen anderen Ausweg mehr sehe als das Programm in seiner Gänze anzunehmen. So wie die Dinge momentan laufen, steuere ich aber schnellen Schrittes darauf zu:
Ich bin nicht in der Lage, mich allein zu anstehenden Arbeiten aufzuraffen und schiebe die Fertigstellung einer Hausarbeit auf, die ich einreichen muss um an meinen letzten im Studium benötigten Schein zu kommen. Ich lerne ebensowenig für meine Mitte März stattfindenden Diplomprüfungen und lasse auch Arbeiten im Haushalt liegen. Stattdessen versuche ich, nicht an all die Dinge zu denken die eigentlich anstünden und sehe 8 Stunden lang fern. Ich fresse. Ich habe Ganzkörper-Juckreiz, mir fallen die Haare aus und bin ständig müde. Alarmsignale, ganz sicher. Und doch kann ich mich auch unter Aufbietung größtmöglicher Selbstdisziplin nur dazu bringen, mal die Wäsche aufzuhängen. Ich bin überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern kann bis gar nichts mehr geht und ich hoffe sehnlichst, dass ich, wenn es soweit ist, noch die Möglichkeit haben werde, hinter mir aufzuräumen. Es ist ein schreckliches Abwarten und Teetrinken aber wenn ich mich zwingen könnte, wirklich genesen zu wollen (mit all den Konsequenzen), dann hätte ich es längst getan.

Klingt alles sehr schrecklich, ich weiß. Ist es auch. Nichtsdestotrotz gibt es auch Fortschritt zu vermelden. Das OA-Programm ist ganzheitlich und kümmert sich nicht nur um die jeweilige Sucht sondern leitet einen an, sein Leben insgesamt anders anzugehen. Ich sperre mich ja, wie oben beschrieben, noch immer (nach beinahe 2 Jahren in OA) dagegen, es wirklich zuzulassen aber ganz unberührt geblieben bin ich trotzdem nicht. Ich bin aufmerksamer gegenüber mir selbst geworden und bemerke, wenn ich egoistisch oder kindlich auf etwas reagiere. Ich schaue mir Kritik mittlerweile wenigstens genau an bevor ich sie (vielleicht) von mir weise. Ich bin offener gegenüber spirituellen Themen und lehne nicht mehr aus Prinzip alles und jeden ab, das/der irgendwie mit Religion zu tun hat. Ich habe allgemein Akzeptanz gegenüber Andersartigkeit gelernt und bremse mich, wenn ich wieder alles nach meinem Kopf haben will. Ich bin eher bereit, Fehler zuzugeben oder einfach mal zu sagen, dass ich etwas nicht kann. Wenn eine Entscheidung ansteht, denke ich eher auch daran, was das für andere bedeuten könnte. Auf Fragen die mich und meine Krankheit betreffen antworte ich ehrlich oder so, dass ich niemanden damit belaste der nicht damit umgehen kann. Es hat sich also etwas getan.

Bis sich das lang Ersehnte tut werde ich nun versuchen, jeden Tag so gut und schadensfrei wie möglich hinter mich zu bringen, immer nur für heute. Ich wünsche Dir und mir gute 24 Stunden.
MissInterpret

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